vor-, nach- und nebenurteile

Wir haben einen Reiseführer dabei, da steht in dem Kapitel über Kolumbien am Anfang:

„Wer seine Vorurteile zuhause lässt, der kann ein farbenfrohes und gastfreundliches Land erleben.“

Blöd, dass ich das gelesen hab, denn jetzt kann ich es nicht ungelesen machen. Und daher frage ich mich nun an jeder Straßenecke, ob der Gedanke, der mir gerade durch den Kopf schießt jetzt ein Vorurteil in Aktion ist oder nicht. Beim Obdachlosen zum Beispiel, der in der Bank seelig schnarchend den Boden vor den Geldautomaten beschläft. Das Rattern beim Geldabheben weckt ihn und er macht sich auf den Weg nach draußen. Hmmh, denk ich mir. Bei uns in Mitteleuropa wäre da doch schon vor Ewigkeiten ein Sicherheitsdienst aufgetaucht. Sofort fühle ich mich wie ein überheblicher Westler, der kopfschüttelnd die Zustände in anderen Ländern belächelt.

Später dann fahren wir durch den Dschungel in Richtung Rincón del Mar. Die Straße ist übersät mit Schlaglöchern, deren Umfahrung regelmäßig die volle Gegenspur in Anspruch nimmt. Und wenn ich Schlaglöcher sage, dann meine ich diese tagebauartigen Krater, die sogar von riesigen Lastern vermieden werden, weil die Fahrer Angst um ihre Achsen haben. Mehr als zwanzig oder dreißig km/h sind nicht drin und dadurch bleibt uns umso mehr Zeit, die tür- und fensterlosen Lehmhütten am Straßenrand zu betrachten. Vor dem Haus ist meist ein magerer Esel oder ein Pferd angebunden und im staubigen Sandboden liegt ab und zu ein Kinderfahrrad oder anderes Spielzeug. Ich empfinde eine ehrliche Faszination, dass hier Leute siedeln und bleiben und ekele mich kurz darauf vor diesem Gefühl, weil es die Annahme implizieren könnte, dass Menschen meinen westlichen Standard wünschen oder brauchen könnten, um zufrieden zu sein. Hätte ich bloß diesen Reiseführer nicht gelesen.

Vorher am Tag – wir verlassen gerade im Auto Cartagena – pfeift uns ein uniformierter Beamter mit seiner Trillerpfeife an und deutet uns, dass wir an den Straßenrand fahren sollen. Es handelt sich nicht um einen Polizisten, sondern eine Art Parksheriff. Er zeigt auf den Riss in unserer Frontscheibe und redet beunruhigend entrüstet auf L ein. Soweit wir verstehen ist er um unsere Sicherheit und die Sicherheit des Landes besorgt und kann deswegen nicht zulassen, dass wir mit einem solchen Riss in der Scheibe weiterfahren. Angesichts der anderen Schrottmühlen auf Kolumbiens Straßen eine ziemlich lächerliche Sorge. „Der will Geld!“ sage ich und wir befolgen unseren vorher besprochenen Plan für solche Situationen: L spricht plötzlich kein Wort Spanisch mehr und antwortet dem Parksheriff abwechselnd auf Deutsch und auf Englisch was ihn dazu bringt uns nach einigen Minuten weiterzuwinken und eine gute Fahrt zu wünschen. Diese erste Bestechungssituation haben wir noch mit Anfängertricks überstanden. Nächstes Mal bieten wir ihm eine Kreditkartenzahlung an und bitten ihn um eine Rechnung…